Die Litfaßsäulen der kleinen Leute

Die Litfaßsäulen der kleinen Leute

Kühlschränke sind die Litfaßsäulen der kleinen Leute.

Erst neulich ist mir das wieder bewusst geworden. Egal, in welche Wohnung ich komme, einer meiner ersten Blicke gehört immer dem Kühlschrank. Was dort passiert, meist ein Bilderbuch sondergleichen. Selbst der Kühlschrank meiner Schwester, die wirklich fernab jeglichen subkulturellen Bezugs ist, knallt ihren derbe voll. Dort lohnt es sogar jedes Mal aufs Neue drüber zu schauen. Vieles dreht sich um Hochzeiten, neue Kinder und Liebesgrüße, aber ja, meiner Schwester geht’s gut rein. Und mir irgendwie auch.

Warum es aber immer den Kühlschrank trifft, ich weiß es nicht. Bei uns zu Hause erwischt es immer auch mal den Spiegel, obwohl dies dann meist schon eine andere Kategorie ist aka Sammler, Fans und so…

Freunde von uns verließen vor vielen Jahren ihre WG, einer ihrer Spiegel sollte bleiben und mit dem Müll auf Kumpel machen. Man konnte kaum noch etwas erkennen, von den Rändern aus hatte man sich konsequent in Richtung Zentrum gearbeitet; und dann noch nicht mal mein Thema aka Fußballsticker. Aber ey, ich konnte nicht anders. Ich musste ihn mitnehmen, und beherberge ihn noch immer, nennen wir es Gnadenbrot. Ganz im Geiste meines Vaters, irgendwann wird schon jemand kommen, der sich darüber freut. Und außerdem, zum Wegschmeißen viel zu schade.


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Doch wir schweifen ab. Es geht um Kühlschränke. Und Aufkleber.

Neulich war wieder so ein Moment, und dies sollte eigentlich der Aufhänger dieses Beitrages werden: Corona drängte sich gerade immer stärker in unsere Wahrnehmung. Warum ich ihn besuchte, ich weiß es gerade gar nicht mehr. Auf jeden Fall war ich da. Und fand Platz in seiner Küche, direkt neben seinem Kühlschrank. Ein Prachtexemplar, nicht nur weil er bereits einige Jahre WG Leben und die darin immer wiederkehrenden politischen Grabenkämpfe dokumentiert, sondern auch weil er es schafft, ungeschönt und fernab jeder Instagramästhetik den Verlauf der Zeit abzubilden. Mittlerweile ist aus der WG eine wunderschöne Patchworkfamilienwohnung geworden. Eine Wohnung, in der es faktisch nie an Betten und Schlafmöglichkeiten mangelt, wie mir schon des Öfteren gesagt wurde. Und dennoch bleibt er stehen, dieser Kühlschrank. Sein Äußeres wird nicht renoviert, grundgereinigt oder ausgetauscht. Stattdessen lebt und atmet er weiter. Vergangenheit und Gegenwart, alles findet darauf seinen Platz, in Respekt und Freundschaft. Wenn die ganze Welt so wäre, es wäre ein Fest.





… Und während ich den Anblick genoss, glaubte ich meinen Augen kaum: Unser erster Aufkleber. Damals kurz vor dem Release unseres ersten Magazins gedruckt. Es gab vielleicht 100, 200 Stück. In unserem Archiv liegt noch ein einziges Exemplar. Wie schön er sich einfügte: Ohne dicke Hose, unaufgeregt, dezent im Hintergrund und Einklang mit den anderen Klebern, Liebesnotizen und Kinderbildern – besser hätte man unser Grundverständnis nicht abbilden können. Gut, dass auch die kleinen Leute ihre Orte haben und finden.

Danke liebe WG, danke meine Freunde, für die immer wiederkehrende Gastfreundschaft, die tollen Schlafgelegenheiten, Gespräche in der Küche, Serieneinführungen und für euer Rama-Familien-Flavour. 

Herzlichst, 
Euer Kühlschrankbibliothekar